Ein Einsatz mit Fragen - Bin Laden war unbewaffnet!
Über das Kommandounternehmen einer US-Eliteeinheit gegen Osama bin Laden in seinem Versteck in Pakistan werden immer mehr Einzelheiten bekannt. Der Al-Kaida-Chef war nach Angaben des Weissen Hauses nicht bewaffnet, als er von einer US-Spezialeinheit getötet wurde.
Er habe sich aber auf andere Weise gewehrt, sagte Sprecher Jay Carney, am Dienstag, ohne Einzelheiten zu nennen. Über den Einsatz des Spezialkommandos sei Pakistan aus Angst vor Verrat vorab informiert worden, erklärte CIA-Chef Leon Panetta in einem Interview mit dem Magazin "Time".
Helikopter kamen aus Afghanistan
Laut Angaben aus Sicherheitskreisen brachen Mitglieder des geheimnisumwitterten Team Six der Navy SEALs in der Nacht zum Montag im Schutz der Dunkelheit mit vier Helikoptern in Dschalalabad im Osten Afghanistans auf.
Beim Eindringen in den pakistanischen Luftraum setzten sie einem Gewährsmann zufolge modernste Technik ein, um dem Radar zu entgehen. Ziel ist die Garnisonstadt Abbottabad im Norden, nur 50 Kilometer von der Hauptstadt Islamabad entfernt.
In einem weitläufigen, von fünfeinhalb Meter hohen Mauern und Stacheldraht umfriedeten Gebäudekomplex wird der Terrorchef vermutet, der für die USA spätestens seit den Anschlägen vom 11. September 2001 der Staatsfeind Nummer eins ist.
Kennwort «Geronimo»
Über dem Grundstück gehen die Helikopter tiefer, die Soldaten seilen sich ab. Schüsse sollen nicht gefallen sein. Doch eine der Maschinen stürzt aus noch unbekanntem Grund zu Boden und kippt um, beim Abzug später wird sie gesprengt. Doch keiner verletzt sich, die Operation geht weiter wie geplant.
Dank Satellitenbildern wissen die Elitekämpfer, dass sie Bin Ladens Familie wahrscheinlich im ersten und zweiten Stock eines der Gebäude auffinden. Sie sichern erst das übrige Gelände und dringen dann zu dem Raum vor, in dem sich der Terrorchef versteckt.
Ein Feuergefecht entbrennt. Bin Laden wird durch einen Schuss getötet, der ihn über dem linken Auge trifft und eine Teil der Schädeldecke wegreisst. Eine zweite Kugel trifft ihn in die Brust. Einer der Soldaten meldet den Tod von "Geronimo", wie das Kennwort für den Terroristenführer lautet.
Auch ein Sohn Bin Ladens, Chalid, stirbt. Getötet werden ebenfalls sein Kurier Scheich Abu Ahmed mit dem Decknamen "Al-Kuwaiti", dessen Bruder und eine nicht identifizierte Frau. Eine der Ehefrauen Bin Ladens wird ins Bein getroffen, überlebt aber. Sie soll zwischen ihm und den Angreifern gestanden haben.
Da habe der Terrorchef "in seinem millionenteuren Anwesen gelebt, weit weg von der Front, und sich hinter Frauen als menschlichen Schutzschildern versteckt", höhnte Terrorabwehrchef John Brennan hernach. Neun Frauen und 23 Kinder hielten sich zur Zeit des Angriffs auf dem Grundstück auf. Sie wurden den pakistanischen Behörden übergeben.
Klammheimlich in die Garnisonstadt
Das Team stellt Unterlagen, Festplatten, DVDs und andere Beweismittel sicher, von denen sich der Geheimdienst Hinweise auf die Vorgehensweise von Al-Kaida und möglicherweise eine Spur zum mutmasslich zweiten Mann an der Spitze, Aiman al-Sawahiri, erhofft. Die CIA ist bereits dabei, das Material durchzusehen.
Nach etwa 40 Minuten steigen die Soldaten mit dem toten Al-Kaida-Anführer in die drei verbliebenen Helikopter und rücken ab.
Der Leichnam Bin Ladens - identifiziert durch Bildvergleich, DNA-Analyse und die Aussage einer der anwesenden Frauen, vermutlich einer seiner Ehefrauen - wird zum Flugzeugträger "USS Carl Vinson" geflogen und im nördlichen Arabischen Meer auf See bestattet. Die US-Behörden überlegten am Dienstag noch, ob ein Foto des erschossenen Terrorchefs veröffentlicht werden soll.
Es steht auch noch eine Erklärung aus, wie es gelingen konnte, klammheimlich mit vier Helikoptern einmal quer über Pakistan zu fliegen und in einer Garnisonstadt mit Militärakademie zu landen. Ebenso erklärungsbedürftig ist, wie das Team einen 40-minütigen Einsatz mit Schiesserei und Sprengung eines Helikopters durchführen konnte, ohne dass das pakistanische Militär oder die Polizei einschritt.